In einem Heftchen wurde mein Großvater - neben anderen
Radrennfahrern seiner Zeit - gebeten, sein "schönstes Rennen" zu beschreiben:
Mein schönstes Rennen
Ihrer Aufforderung zur Schilderung meines schönsten Rennens komme ich gerne nach. Es fällt mir nur etwas schwer, dieses bei dem Mangel an überragenden Erfolgen herauszufinden. Der Krieg mit seinen manigfachen Erlebnissen hat so manches aus der Vergangenheit verblassen lassen. Einmal in meiner bisherigen Rennfahrerlaufbahn ist es mir eigentlich nur gelungen, einen wirklich großen Erfolg zu erringen. Es war bei der denkwürdigen Weltmeisterschaft in Berlin-Steglitz im Jahre 1908. Ich muss mich etwas in die schönmen Tage hineingrübeln. Ganz vergessen könnte man das Fest nicht, welches der radsportlichen Welt auf dem herrlichen Zement von Steglitz geboten wurde.
Im Sommer des genannten Jahres hatte ich in Münster
in dem Neger Spain einen ständigen und guten Trainingskameraden. Zusammen bestritten wir
fast alle Rennen auf den Bahnen in Westdeutschland. Durch gewissenhaftes Training bewahrte
ich mir stets einen kleinen Vorsprung in der Form. Da der Neger viel mit den bekannteren
Fahrern aus Berlin, in Hamburg und Russland gefahren hatte, so konnte ich bei ihm viele
Erfahrungen sammeln. Er war auch die Triebfeder dazu, dass ich zu der genannten
Weltmeisterschadt kam. Jedenfalls sah ich mich eines Tages vor der Tatsache , alleine die
große Reise anzutreten. Es war gleichzeitig meine erste Reise nach Berlin. Alle
Vorbereitungen waren getroffen. Wohnung in Berlin hatte mir schon ein dort angestellter
Schulkamerad freundlichst besorgt.
Sehr enttäuscht las ich eines schönen Sommerabends gegen 7 Uhr nach 11stündiger Fahrt
"Berlin Friedrichstr." Meine Phantasie hatte sich etwas Außergewöhnliches
vorgestellt. Auf der Friedrichstraße angelangt, war meine Enttäuschung vollkommen. Hier
standen ja Häuser wie in jeder anderen Stadt; hier spielte sich kaum mehr Leben wie in
Köln auf der Hochstraße ab. Ja, was hatte ich mir denn eigentlich anderes gedacht?
Darauf konnte ich mir aber auch keine Antwort geben. Immer musste ich meinen Freund und
Führer wieder fragen, "ist das denn wirklich die berühmte Friedrichstraße und sind
wir hier richtig in Berlin?" Später, als ich aus dem Traume erwacht war, habe ich
dann doch vieles Schöne kennen gelernt, was Berlin vor anderen Städten voraus hat und es
zu seiner Berühmtheit macht. Aber davon soll und will ich ja nicht berichten.
Nur von dem Wunsch beseelt, bald nach Steglitz zu
kommen, wandelten wir durch die Stadt bis wir unsere Wohnung erreichten. Den nächsten
Morgen konnte ich kaum erwarten. Durch liebenswürdige Führung meines Freundes kam ich
schon am frühen Vormittag auf dem großen Sportplatz an. Nach Erledigung einiger
Formalitäten wurden wir zum Bahnwart geführt. In dem Kabinenhof begann es langsam
lebhaft zu werden. Besonders lustig schien es mir in den Quartieren der Südländer zu
sein. Sämtliche Kabinen waren besetzt, weil ich erst am Dienstag eintraf. , wo am
Donnerstag bereits die Vorläufe gefahren wurden. Nachdem sich der gute alte Bahnwart
vergeblich bemüht hatte, mich irgendwo unterzubringen, hatte er die Liebenswürdigkeit,
mir einen kleinen Teil seines schon sehr geringen Tagesraumes abzutreten. In diesem Winkel
traf ich den ersten lieben Menschen unter Menschen. Ich habe in den acht Tagen meines
dortseins manche frohe Stunde mit dem Alten verlebt.
Die meiste Aufmerksamkeit bei den Kameraden erregte mein Rad. Ich besaß damals ein
ziemlich verbautes Rad mit waagerecht gelegenem Tretlager und ungewöhnlich langen Kubeln.
Meine Trainingsreifen waren geflickt. Von einem Berliner Fahrer wurde mir dringend
empfohlen, aus diesem Grunde nicht mit ihnen zutrainieren. Beider kühlen Aufnahme, welche
ich in Berlin hatte und der geringen Kameradschaft, die ich vorfand, schien mir diese
Äußerung nichts Außergewöhnliches. Ich denke heute nur noch mit stiller Freude an die
Zeit zurück. Damals waren meine Erfolge der beste Wundbalsam.
Für das Rennen hatte ich mir bereits bei dem Verwalter der Bahn, Herrn Dietrich, neue
Reifen gekauft und dieselben gewissenhaft auf meine "leichten Räder"
aufgezogen, die ich sorgsam in meiner Wohnung aufbewahrte. Die Zeit bis zum Rennen
verlebte ich vollkommen isoliert. Nach meinem Sieg im Vorlauf zur Weltmeisterschaft über
Jaquelin, Peter, Bettinger und Rabe war Herr Tadewald der erste, der mir zu meinem Sieg
gratulierte. Ich gewann dann noch am gleichenTage den Vorlauf des V.D.R. vor Peter und
Stabe. Mit frischem Mut für Sonntag, voll der besten Hoffnung, ging ich die nächsten
Tage in Training.
Hier muss ich etwas Eigenartiges einfügen. Es wird
wohl vielen Fahrern ähnlich ergehen, dass sie die die Begleitumstände, unter denen sie
größere Erfolge erringen, bestimmend für den Erfolg halten. Man wird sich bemühen, die
Vorbedingungen, welcher Art sie auch seien, möglichst zu erfüllen, solange, bis man
durch einen ebenso großen Misserfolg belehrt worden ist.
So ging es mir an jenem Donnerstag, dem 30. Juli 1908. Um Berlin möglichst schnell
kennenzulernen und um alles zu sehen, war ich den ganzen Tag auf den Beinen. Zu Fuß ging
ich von meiner Wohnung im Norden der Stadt bis zum Wannseebahnhof und ebenfalls zurück.
Diese Methode habe ich die späteren Tage getreulich beibehalten. Heute bin ich von der
Richtigkeit nicht mehr so fest überzeugt, und ich kenne einen Weltmeister, der nur ungern
weite Strecken vor dem Rennen geht.
Die für mich so ehrenvollen Berichte in den
Tageszeitungen, ganz besonders aber die herzlichenWorte in der"Rad-Welt", gaben
mir unbeschreiblichen Mut zu neuen Taten.
Ein Teil der Kameraden schien sich auch mit der Tatsache abgefunden zuhaben, dass für
mich ein Plätzchen am Radfahrerhimmel frei sein musste. Von einigen Seiten empfing ich
sogar Ratschläge. Mein schönster Traum, in den Endlauf der Meisterschaft zu gelangen,
wurde durch die Zusammenstellung mit dem Sieger der Meisterschaft Ellegaard und Arend
vernichtet.
Aber ein großer Erfolg dafür sollte mir beschieden sein in dem Siege im internationalen
Vorgabefahren über 1000 m. Hier stand ich auf 60 m. In meiner nächsten Umgebung die
Berliner Mittelklasse. Eine nie vorher von diesen Herren bekannte Beredsamkeit stellte
sich plötzlich kurz vor dem Start ein. Mir wurde etwas unheimlich zumute. Tausend
Gedanken schwirrten mir durch den Sinn. Ich wusste mir die unklaren Wortenicht zu deuten.
Die Unterhaltung wurde ohne Resultat abgebrochen durch die Worte des Starters :"Alles
fertig?" Der Schuss fiel, ich kam durch gutes Starten des Schrittmachers Hesslich
schnell an meinen Vordermann heran und erreichte bald die Spitzengruppe. In Sorge, die
Hinterleute möchten herankommen, begann ich in der Zielkurve mit letzter Kraft den Spurt.
In der Zielseite lief ich mit einer Länge vor dem Felde als Sieger übers Band. Hinter
mir kamen Techmer, Conrad, Hourlier und Martinein. Im geschlagenen Felde befanden sich die
besten Leute der damaligen Zeit. Der Umstand, dass ich das Rennen unter den denkbar
ungünstigsten Verhältnissen und gegen die größte Konkurrenz gewann, macht mir den
Erfolg zu dem wertvollsten meiner bisherigen Rennfahrerzeit, die so wechselvoll mit ihren
Erfolgen gewesen ist.
Ein fast gleichwertiger Erfolg scheint mir das angenehme Bewußtseinzu sein, heute restlos
mit sämtlichen Kameraden des schönen Radrennsports im herzlichsten Einvernehmen zu
leben.
Allen Fahrern aus der Provinz möchte ich aber zu Schluß noch zurufen, ebenso wie ich,
sich gegen "Berlin" im freudigen Wettkampf auf dem Zement durchzuringen. Der
Erfolg kann nicht ausbleiben.
C l e m e n s S c h ü r m a n n