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Lull Gillen

Gillen, Lull  (LUX)
geb.: 07.10.1928, Letzebuerg (LUX)

Schon mit sechs Jahren gewann Lull Gillen sein erstes Rennen auf 2 Rädern.
Am 13. September 1947 begann dann seine Karriere als Radprofi.

Hervorragender Bahnfahrer, der in 123 Sechstagerennen 11 Siege, 20mal zweite und 24mal dritte Platzierungen erlangte.
1955 stellte Lull in Mailand den Weltrekord über die 5000 Meter auf.
Mehrfacher Luxenburger Meister

Ein Artikel, den Lull Gillen für den "Velo club Bertrange" über sein erstes 6-Tagerennen 1948 in New York geschrieben hat uns den er mir freundlicher Weise zumailte.  Vielen Dank.

Lull erzählt uns von seinem ersten Sechstagerennen

Ende September 1948 schiffte  Lull sich mit dem radelnden luxemburgischen Abgeordneten Mathias – Mett - Clemens, und 18 europäischen Rennfahrern, an Bord des französischen“ S.S. De Grasse“ für eine zehntägige Fahrt, bei herrlichem Spätsommerwetter, nach New York ein . Eine halbe Stunde pro Tag Hometrainer auf Deck, - wo das Gleichgewicht arg strapaziert wurde- und ein bemerkenswerter Appetit der Rennfahrer wurden vom Schiffskapitän ins Bordbuch eingetragen. Kein Wunder bei der hervorragenden französischen Küche…

Das Schiff erreichte New York am 7. Oktober abends, genau an Lull’s zwanzigstem Geburtstag.  Ein wunderschönes Fest an der Captain’s-table, umgeben von auserlesenen Gästen sollte dem Geburtstagskind zu einem unvergesslichen Andenken verhelfen.

Am nächsten Vormittag verließen Mett und Lull mit allen Passagieren das Schiff und wurden gleich am Pier vom luxemburgischen Konsul, Herrn Staudt, sowie einer ansehnlichen Kolonie ausgewanderter Luxemburger herzlich begrüßt. Diese Kolonie  hatte sich übrigens während dem ganzen Aufenthalt liebevoll um unsere Vertreter bemüht.

Strassentraining morgens um sechs

Die faszinierende Großstadt New York sah die ganze Rennfahrertruppe aus Europa morgens um 6 Uhr im Centralpark beim eineinhalbstündigen Training, bevor der damals schon mächtige Verkehr ins Rollen kam.

Lull: „Wir konnten erst einen Tag vor dem Start des Sechstagerennens in der Kingsbridge Armory-Halle trainieren, wo die 2oo Meter Holzrennbahn aufgebaut wurde. Diese war nicht sehr breit ohne Übergang in den Kurven zum Boden, aber man konnte doch voll spurten…ich fragte mich nur, wie wir bei 18 Mannschaften aneinander vorbeikämen. Zumal ein Drittel der Rennfahrer aus Amerikanern und Kanadier bestand, die bis auf wenige Ausnahmen noch nie auf einer kleinen Indoorbahn gefahren waren. Ich ahnte nichts Gutes. Ich hatte eine gute Form und eine prächtige Moral ebenso mein Partner Mett, und wir ließen die Ereignisse mit Zuversicht auf uns zukommen. Mett Clemens war mir ein guter Kamerad, obschon er 15 Jahre älter war. Er störte sich auch nicht an meinem jugendlichen Ungestüm und machte mit. Wir hatten während des ganzen Rennens allerbeste Laune, was in meiner späteren Laufbahn nicht bei jedem Partner der Fall war… und dann dauern 6Tagerennen eine Ewigkeit. Ich habe es sehr bedauert, dass er im selben Winter in Paris bei einem 3Stundenrennen schwer stürzte und seine Rennfahrerkarriere aufgeben musste. Ich hätte gerne und gut noch ein paar Jährchen mit ihm als Partner auf den Rennbahnen Europas – und Übersee – als luxemburger Mannschaft erfolgreich fahren können.

Zurück zum Rennen: Wir mussten alles selbst machen : auspacken, sortieren, Kabine und Koje installieren, Räder montieren (ich bin in meinem ganzen Rennfahrerleben ein miserabler Mechaniker gewesen), Reifen aufkleben, die dann eine schöne Garnitur Schellack auf den Seiten aufzuweisen hatten. Aufpumpen mussten wir sogar selbst, und als der Startschuss fiel, pumpte ich noch am Hinterrad. Einen Helfer hatten wir zwar an der Koje stehen, der Junge war Elektriker und konnte vielleicht einen Kurzschluss beheben, aber für uns war er nur zum Essenholen zu gebrauchen.

Kurzum, die erste tolle Jagd begann. Ich sage toll, denn es ging zu wie in der Karnevalszeit im Tanzsaal bei Beatmusik. Ich muss vorausschicken, dass bei Sturz, sogar von nur einem einzigen Rennfahrer, das Rennen durch drei Glockenschläge neutralisiert wurde. Ich kann euch verraten, es klingelte alle paar Minuten. In den verschiedensten Ecken krachte es, knallten Reifen und rannten die Sanitäter mit oder ohne Tragbahre. Ich geriet ein paar Mal in ein Gemenge, kam aber jedes Mal mit einer Gänsehaut davon. Kinder, da war was  los.

 Von Organisation keine Spur

Nach zwei Stunden Fahrt mit mindestens 12 Neutralisationen und der guten Hälfte der Teilnehmer am Boden, kam dann über die Lautsprecher der erste Stand. Ich muss eingestehen, ich hatte keine Ahnung, wo unsere Mannschaft sich befand und musste hören, dass wir zwei Runden Rückstand hatten. Ehrlich gesagt, ich weiß heute noch nicht, ob der Wettfahrausschuß sich den Stand nicht ein wenig ausgedacht hatte, denn bei dem Durcheinander von abgehängten Mannschaften, vorstoßenden Mannschaften (wobei von zwei Vorstößen wenigstens einer, wenn nicht alle zwei, durch die Glocke gestoppt wurden), die Defekte (und die vorgetäuschten), konnte das geübte Auge, und an denen mangelte es ohnehin, keine Entscheidung treffen.

Nun, die erste Jagd lag hinter uns, es ging gleich weiter mit Wertungen (alle Stunden von 2o.oo Uhr bis morgens um 5 waren fünf Spurts über eine Meile) und  trotz der Schlachthausatmosphäre am Rande der Piste waren wir guter Dinge. – Gustav Kilian fuhr damals mit einem Amerikaner,  Mike Abt, der gut aussah, aber verdammt langsam seine Runden drehte. Gustav war sehr nett zu mir und gab mir wertvolle Winke in den Jagden. Ich bedauerte ihn, wo er doch seinen großen Namen mit seinem radelnden Cowboy-Partners aufs Spiel setzen mussten.

In der Zieleinlaufkurve hing ein großes Gerüst  mit dem Stand des Rennens. (Ich betone, dass in den Kurven keine Zuschauer saßen, und oben an der Barriere aus Holz konnte man so schön fünf Meter weiter unten den Zementfußboden sehen). Die Barriere war eine Art Gartenzaun, der mehr optisch wirkte als dass er uns Rennfahrern Sicherheit einflössen konnte. Ich kam mir vor wie ein Trapezkünstler ohne Netz. 

Aber ich sprach eben von der Tafel  in der Kurve. Nach jeder Nacht und jedem Nachmittag wurden von einer Spezialmannschaft die Tafeln mit Namen, Rundenrückständen respektive die Punktzahl ausgewechselt. Sie turnten dabei auf einer großen Leiter herum und hatten jedes Mal eine volle Stunde lang zu tun, um ihre Aufgabe zu erledigen. Die Burschen waren allerdings so clever, dass sie sofort von ihrer Leiter verdufteten, wenn die Jagd losging. Sie trauten (mit Recht) unseren Steuerkünsten nicht ganz.

Gerrit Loos flog durch den Gartenzaun

Bis dann in der dritten Nacht bei einem Spurt das Unvermeidliche passierte. Gerrit Loos, ein holländischer Straßenfahrer, der sowieso von Anfang an Streit mit der Kurventechnik hatte, wollte aus dritter Position eingangs der Kurve noch angreifen, versteuerte sich prompt und schoss raketenartig steil nach oben über den Zaun, durch die fein säuberlich arrangierte Tabelle und verschwand hinter der oberen Kurvenwand. Das kaputte Fahrrad blieb an den durchbrochenen Latten hängen. Ein einziger Schrei in der von 8000 Menschen besetzten Halle (seiner muss auch dabei gewesen sein). Entsetzten in den Augen aller Fahrer, und die Glocke tönte wie ein Totengeläut. Der Gerrit konnte nicht mehr ganz sein. Das Gebälk mit den Namen, Runden und Punkten war zerfetzt, laut Tafel fuhr ich  mit Rupprecht (USA), hatte 11 Runden Rückstand (dabei waren wir Spitze) und Clemens Namen hing schief an einem einzigen Nagel. Andere waren überhaupt nicht mehr auf der Tafel und lagen mit Loos auf dem Zementboden. Die 12 Mannschaften, die nach 24 Stunden übrig geblieben waren (die anderen lagen im Krankenhaus oder waren jedenfalls so übel zugerichtet, dass an eine Weiterfahrt nicht mehr gedacht werden konnte) waren abgekühlt. Wir bangten um das Leben unseres Kollegen, bis dann ein indianerähnliches Geheul aus den Zuschauerrängen uns auf einen Polizisten aufmerksam machte, der mit dem wie ein Gespenst wirkenden Loos an der Bahn erschien. Uns fiel ein Stein vom Herzen und Gerrit bekam in demselben Moment die größte Ovation, die er je in seinem kurzen Künstlerleben hören sollte. Er war der Held der Nacht. 

Italiener, Könige in New York

In den Sechstagerennen sind die Italiener Könige. Von 10 000 Zuschauern sind 7000 Italiener. Mit ihrem sowieso lautstarken und demonstrativen Benehmen kann man sich ausmalen, was in der Halle los war, wenn Rigoni-Bevilacqua (der spätere Verfolgungsweltmeister) auf Rundengewinn ausgingen, oder in Spurts und Prämien siegreich waren. Sie waren die Favoriten des Rennens. Ihre grün-weiss-roten Trikots waren auch für die meisten Mannschaften ein Anhaltspunkt während der Jagden. Bevilacqua war auch gestürzt und hatte schwere Pflaster über der Nase und am Kinn, er sah aus, der gute Toni, wie der schlimmste Verbrecher. Aber das störte die lautstarken Italienermassen nicht, um ihre Mannschaft noch mehr anzufeuern. (Übrigens, mein einziger Sturz war durch Rigoni bedingt, und ich litt unter ziemlich starken Rücken- und Beckenprellungen.) Clemens und ich schlossen einen Pakt für die letzten 24 Stunden mit den Belgiern Bruneau-Saen, um uns die Italiener vom Leibe zu halten, und dann den Sieg am letzten Abend, ohne die italienische Gefahr im Nacken, auszufahren. Wir waren mit den Franzosen Dousset-Le Nizhery nur noch 4 Mannschaften, die  gewinnen konnten, die anderen waren weit abgeschlagen. Clemens fuhr in der letzten Nacht sehr stark. So lagen wir um 4 Uhr morgens mit den Belgiern an der Spitze, die Franzosen waren eine Runde zurück, die Holländer Vooren-Van Beek waren, von unserer kriegerischen Taktik Nutzen ziehend, bis auf drei Runden auf den vierten Platz vorgerückt, und, wie gesagt, der Toni saß mit Severino Rigoni auf 5 Runden Rückstand.

Aber das gefiel weder unseren Hauptkonkurrenten, noch der Majorität der Italiener. Und weiter ging die Jagd. Da an ein Abhängen nicht zu denken war, bolzten die beiden Italiener wie die Irren oben am Zaun herum, in einem für die vorgerückte Stunde bemerkenswerten Tempo. Alle 10 Minuten lösten sie sich ab. Mett und ich taten das gleiche. Wir aßen etwas in Eile und freuten uns auf die unheimliche Wut der beiden und auch die langen Gesichter der vielen Italiener in den Rängen. Bis uns Rigoni dann sagte, er wolle bis Mittag durchfahren und dann aufgeben (das Renen war in der letzten Nacht nicht mehr neutralisiert). Wir wären dann schön kaputt und das Finale wäre „im Eimer“. – Da machten auch wir lange Gesichter … 

Ich sagte unserem Elektriker-Läufer, er solle uns eine Kanne starken Kaffee fertig machen (das konnte er), die Morgenstunden würden unangenehm für uns alle. Die Uhr schlug sieben: Jimmy Proscia (genannt der Wal), der Boss, selber Italiener, begann die Vorstellung gar nicht mehr so lustig zu finden. Er schrie auf Italienisch Rigoni an, er solle doch Vernunft annehmen und ihm sein schönes Rennen nicht boykottieren. Es half nichts. Dazu gab es dann noch eine Schlägerei zwischen Italienern und Andersgesinnten, die leeren Flaschen sausten durch die Arena, die Polizei griff ein, es gab Beulen und viel Geschrei. Ich hatte mir zwar ein Sechstagerennen in New York sehr bewegt vorgestellt, aber hier bewegte sich aber auch alles.<>

Rettung: „Eine Latte fehlt!“

Bis dann um 7.15 Uhr morgens auf einmal unsere Armesünder-Glocke dreimal schlug. Wir trauten unseren Ohren nicht. Was bedeutete denn diese Neutralisation auf einmal? Niemand war gestürzt … Ich ging zu Direktor Proscia und fragte, was denn los sei. „Jungens“, sagte er, „geht alle in eure Kabinen und schlaft euch mal aus. Die Bahn ist in der Kurve reparaturbedürftig“ – (es fehlte auf einmal eine Latte, und ich hörte später, dass der „Wal“ selber die rettende Latte herausgesägt hatte) – „und ich kann keinen Zimmermann vor 12 Uhr bekommen. Das Rennen beginnt erste wieder um 13 Uhr.“ Da gab es dann richtigen Krieg im Innenraum, die 1000 Zuschauer, die noch ausgehalten hatten, gerieten sich in die Haare. Ich verschanzte mich mit Clemens in die Koje, zog den Vorhang zu und wartete, bis das Gewitter sich dank 50 Polizisten verzogen hatte.

Nachmittags hatte Rigoni und „Bevi“ sich beruhigt, die „schnelle Pulle“, die sie in der Nacht so gereizt hatte, tat ihre negative Wirkung, und die Helden waren müde.

Im Finale unterlagen wir den Belgiern mit einer Runde Rückstand, die sie während eines Defektes von mir zwei Stunden vor Schluss herausfuhren. Wir hatten aber für unser erstes Rennen einen guten zweiten Platz erobert und wurden stürmisch gefeiert. Hätten wir gewonnen, ich glaube, ganz Luxemburg wäre damals aus dem Häuschen geraten.

 Statt Börse zog der „Wal“ die Kanone

Nach dem Rennen wollten wir gleich unser schwer verdientes Geld kassieren. Roger Godeau war der erste an der Tür des Veranstalters und trat nach kurzem Klopfen ins Büro. Er war allerdings sehr schnell wieder draußen. Er erzählte uns kreidebleich, dass Proscia, sich  mit den Füssen auf dem Schreibtisch entspannend, sobald er von „Geld abholen“ gehört habe, seelenruhig eine Pistole aus der Schublade gezogen, mit gewandter Wildwest-Drehung um den Zeigefinger den Lauf auf Godeau gerichtet und ihm zu verstehen gegeben habe, dass, wenn er binnen 10 Sekunden den Raum  nicht verlassen hätte, der Schuss wahrscheinlich losgehen würde. – Ich wurde dann hineingeschickt, um höflichst zu fragen, wann denn Zahltag wäre: Proscia war aber gut gelaunt und freute sich mächtig, dass er Godeau einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Unser Geld bekamen wir allerdings erst zwei Tage später…

Wir kamen auch per Schiff wieder zurück bei schwerer See und starteten zwei Tage nach unserer Heimkehr im Brüsseler Sechstagerennen. Aber das ist eine andere Geschichte, die erzähl ich euch das nächste Mal.
Lull Gillen