Lull
erzählt uns von seinem ersten Sechstagerennen
Ende September 1948 schiffte Lull sich mit
dem radelnden luxemburgischen Abgeordneten
Mathias – Mett
- Clemens, und 18 europäischen Rennfahrern, an Bord des
französischen“ S.S. De
Grasse“ für eine zehntägige Fahrt, bei herrlichem
Spätsommerwetter, nach New
York ein . Eine halbe Stunde pro Tag Hometrainer auf Deck, - wo das
Gleichgewicht arg strapaziert wurde- und ein bemerkenswerter Appetit
der
Rennfahrer wurden vom Schiffskapitän ins Bordbuch eingetragen.
Kein Wunder bei
der hervorragenden französischen Küche…
Das Schiff erreichte New York am 7.
Oktober
abends, genau an
Lull’s zwanzigstem Geburtstag. Ein
wunderschönes Fest an der Captain’s-table, umgeben von
auserlesenen Gästen
sollte dem Geburtstagskind zu einem unvergesslichen Andenken verhelfen.
Am nächsten Vormittag
verließen
Mett und Lull mit allen
Passagieren das Schiff und wurden gleich am Pier vom luxemburgischen
Konsul,
Herrn Staudt, sowie einer ansehnlichen Kolonie ausgewanderter
Luxemburger herzlich
begrüßt. Diese Kolonie hatte
sich
übrigens während dem ganzen Aufenthalt liebevoll um unsere
Vertreter bemüht.
Strassentraining morgens um
sechs
Die faszinierende Großstadt New York sah die ganze
Rennfahrertruppe aus Europa morgens um 6 Uhr im Centralpark beim
eineinhalbstündigen
Training, bevor der damals schon mächtige Verkehr ins Rollen kam.
Lull: „Wir konnten erst einen Tag vor
dem
Start des
Sechstagerennens in der Kingsbridge Armory-Halle trainieren, wo die 2oo
Meter
Holzrennbahn aufgebaut wurde. Diese war nicht sehr breit ohne
Übergang in den
Kurven zum Boden, aber man konnte doch voll spurten…ich fragte mich
nur, wie
wir bei 18 Mannschaften aneinander vorbeikämen. Zumal ein Drittel
der
Rennfahrer aus Amerikanern und Kanadier bestand, die bis auf wenige
Ausnahmen
noch nie auf einer kleinen Indoorbahn gefahren waren. Ich ahnte nichts
Gutes. Ich
hatte eine gute Form und eine prächtige Moral ebenso mein Partner
Mett, und wir
ließen die Ereignisse mit Zuversicht auf uns zukommen. Mett
Clemens war mir ein
guter Kamerad, obschon er 15 Jahre älter war. Er störte sich
auch nicht an
meinem jugendlichen Ungestüm und machte mit. Wir hatten
während des ganzen
Rennens allerbeste Laune, was in meiner späteren Laufbahn nicht
bei jedem
Partner der Fall war… und dann dauern 6Tagerennen eine Ewigkeit. Ich
habe es
sehr bedauert, dass er im selben Winter in Paris bei einem
3Stundenrennen
schwer stürzte und seine Rennfahrerkarriere aufgeben musste. Ich
hätte gerne
und gut noch ein paar Jährchen mit ihm als Partner auf den
Rennbahnen Europas –
und Übersee – als luxemburger Mannschaft erfolgreich fahren
können.
Zurück zum Rennen: Wir mussten alles selbst
machen :
auspacken, sortieren, Kabine und Koje installieren, Räder
montieren (ich bin in
meinem ganzen Rennfahrerleben ein miserabler Mechaniker gewesen),
Reifen
aufkleben, die dann eine schöne Garnitur Schellack auf den Seiten
aufzuweisen
hatten. Aufpumpen mussten wir sogar selbst, und als der Startschuss
fiel,
pumpte ich noch am Hinterrad. Einen Helfer hatten wir zwar an der Koje
stehen,
der Junge war Elektriker und konnte vielleicht einen Kurzschluss
beheben, aber
für uns war er nur zum Essenholen zu gebrauchen.
Kurzum, die erste tolle Jagd begann.
Ich
sage toll, denn es
ging zu wie in der Karnevalszeit im Tanzsaal bei Beatmusik. Ich muss
vorausschicken, dass bei Sturz, sogar von nur einem einzigen
Rennfahrer, das
Rennen durch drei Glockenschläge neutralisiert wurde. Ich kann
euch verraten,
es klingelte alle paar Minuten. In den verschiedensten Ecken krachte
es, knallten
Reifen und rannten die Sanitäter mit oder ohne Tragbahre. Ich
geriet ein paar
Mal in ein Gemenge, kam aber jedes Mal mit einer Gänsehaut davon.
Kinder, da
war was los.
Von Organisation keine Spur
Nach zwei Stunden
Fahrt
mit mindestens 12 Neutralisationen
und der guten Hälfte der Teilnehmer am Boden, kam dann über
die Lautsprecher
der erste Stand. Ich muss eingestehen, ich hatte keine Ahnung, wo
unsere
Mannschaft sich befand und musste hören, dass wir zwei Runden
Rückstand hatten.
Ehrlich gesagt, ich weiß heute noch nicht, ob der
Wettfahrausschuß sich den
Stand nicht ein wenig ausgedacht hatte, denn bei dem Durcheinander von
abgehängten Mannschaften, vorstoßenden Mannschaften (wobei
von zwei Vorstößen
wenigstens einer, wenn nicht alle zwei, durch die Glocke gestoppt
wurden), die
Defekte (und die vorgetäuschten), konnte das geübte Auge, und
an denen mangelte
es ohnehin, keine Entscheidung treffen.
Nun, die erste Jagd lag hinter uns, es
ging
gleich weiter mit
Wertungen (alle Stunden von 2o.oo Uhr bis morgens um 5 waren fünf
Spurts über
eine Meile) und trotz der
Schlachthausatmosphäre am Rande der Piste waren wir guter Dinge. –
Gustav
Kilian fuhr damals mit einem Amerikaner, Mike
Abt, der gut aussah, aber verdammt langsam seine
Runden drehte.
Gustav war sehr nett zu mir und gab mir wertvolle Winke in den Jagden.
Ich
bedauerte ihn, wo er doch seinen großen Namen mit seinem
radelnden
Cowboy-Partners aufs Spiel setzen mussten.
In der Zieleinlaufkurve hing ein großes Gerüst
mit dem Stand des Rennens. (Ich betone, dass
in den Kurven keine Zuschauer saßen, und oben an der Barriere aus
Holz konnte
man so schön fünf Meter weiter unten den Zementfußboden
sehen). Die Barriere
war eine Art Gartenzaun, der mehr optisch wirkte als dass er uns
Rennfahrern
Sicherheit einflössen konnte. Ich kam mir vor wie ein
Trapezkünstler ohne Netz.
Aber ich sprach eben von der Tafel in der
Kurve. Nach jeder Nacht und jedem
Nachmittag wurden von einer Spezialmannschaft die Tafeln mit Namen,
Rundenrückständen respektive die Punktzahl ausgewechselt. Sie
turnten dabei auf
einer großen Leiter herum und hatten jedes Mal eine volle Stunde
lang zu tun,
um ihre Aufgabe zu erledigen. Die Burschen waren allerdings so clever,
dass sie
sofort von ihrer Leiter verdufteten, wenn die Jagd losging. Sie trauten
(mit
Recht) unseren Steuerkünsten nicht ganz.
Gerrit
Loos
flog durch den
Gartenzaun
Bis dann in der dritten Nacht bei einem Spurt das
Unvermeidliche passierte. Gerrit Loos, ein holländischer
Straßenfahrer, der
sowieso von Anfang an Streit mit der Kurventechnik hatte, wollte aus
dritter
Position eingangs der Kurve noch angreifen, versteuerte sich prompt und
schoss
raketenartig steil nach oben über den Zaun, durch die fein
säuberlich
arrangierte Tabelle und verschwand hinter der oberen Kurvenwand. Das
kaputte
Fahrrad blieb an den durchbrochenen Latten hängen. Ein einziger
Schrei in der
von 8000 Menschen besetzten Halle (seiner muss auch dabei gewesen
sein).
Entsetzten in den Augen aller Fahrer, und die Glocke tönte wie ein
Totengeläut.
Der Gerrit konnte nicht mehr ganz sein. Das Gebälk mit den Namen,
Runden und
Punkten war zerfetzt, laut Tafel fuhr ich mit
Rupprecht (USA), hatte 11 Runden Rückstand (dabei
waren wir Spitze)
und Clemens Namen hing schief an einem einzigen Nagel. Andere waren
überhaupt
nicht mehr auf der Tafel und lagen mit Loos auf dem Zementboden. Die 12
Mannschaften,
die nach 24 Stunden übrig geblieben waren (die anderen lagen im
Krankenhaus
oder waren jedenfalls so übel zugerichtet, dass an eine
Weiterfahrt nicht mehr
gedacht werden konnte) waren abgekühlt. Wir bangten um das Leben
unseres
Kollegen, bis dann ein indianerähnliches Geheul aus den
Zuschauerrängen uns auf
einen Polizisten aufmerksam machte, der mit dem wie ein Gespenst
wirkenden Loos
an der Bahn erschien. Uns fiel ein Stein vom Herzen und Gerrit bekam in
demselben Moment die größte Ovation, die er je in seinem
kurzen Künstlerleben
hören sollte. Er war der Held der Nacht.
Italiener,
Könige in
New York
In den Sechstagerennen sind die
Italiener
Könige. Von 10 000
Zuschauern sind 7000 Italiener. Mit ihrem sowieso lautstarken und
demonstrativen
Benehmen kann man sich ausmalen, was in der Halle los war, wenn
Rigoni-Bevilacqua
(der spätere Verfolgungsweltmeister) auf Rundengewinn ausgingen,
oder in Spurts
und Prämien siegreich waren. Sie waren die Favoriten des Rennens.
Ihre
grün-weiss-roten Trikots waren auch für die meisten
Mannschaften ein
Anhaltspunkt während der Jagden. Bevilacqua war auch gestürzt
und hatte schwere
Pflaster über der Nase und am Kinn, er sah aus, der gute Toni, wie
der
schlimmste Verbrecher. Aber das störte die lautstarken
Italienermassen nicht,
um ihre Mannschaft noch mehr anzufeuern. (Übrigens, mein einziger
Sturz war
durch Rigoni bedingt, und ich litt unter ziemlich starken Rücken-
und
Beckenprellungen.) Clemens und ich schlossen einen Pakt für die
letzten 24
Stunden mit den Belgiern Bruneau-Saen, um uns die Italiener vom Leibe
zu
halten, und dann den Sieg am letzten Abend, ohne die italienische
Gefahr im
Nacken, auszufahren. Wir waren mit den Franzosen Dousset-Le Nizhery nur
noch 4
Mannschaften, die gewinnen konnten, die
anderen waren weit abgeschlagen. Clemens fuhr in der letzten Nacht sehr
stark.
So lagen wir um 4 Uhr morgens mit den Belgiern an der Spitze, die
Franzosen
waren eine Runde zurück, die Holländer Vooren-Van Beek waren,
von unserer
kriegerischen Taktik Nutzen ziehend, bis auf drei Runden auf den
vierten Platz vorgerückt,
und, wie gesagt, der Toni saß mit Severino Rigoni auf 5 Runden
Rückstand.
Aber das gefiel weder unseren Hauptkonkurrenten,
noch
der
Majorität der Italiener. Und weiter ging die Jagd. Da an ein
Abhängen nicht zu
denken war, bolzten die beiden Italiener wie die Irren oben am Zaun
herum, in
einem für die vorgerückte Stunde bemerkenswerten Tempo. Alle
10 Minuten lösten
sie sich ab. Mett und ich taten das gleiche. Wir aßen etwas in
Eile und freuten
uns auf die unheimliche Wut der beiden und auch die langen Gesichter
der vielen
Italiener in den Rängen. Bis uns Rigoni dann sagte, er wolle bis
Mittag
durchfahren und dann aufgeben (das Renen war in der letzten Nacht nicht
mehr
neutralisiert). Wir wären dann schön kaputt und das Finale
wäre „im Eimer“. –
Da machten auch wir lange Gesichter …
Ich sagte unserem Elektriker-Läufer, er solle
uns eine
Kanne
starken Kaffee fertig machen (das konnte er), die Morgenstunden
würden
unangenehm für uns alle. Die Uhr schlug sieben: Jimmy Proscia
(genannt der
Wal), der Boss, selber Italiener, begann die Vorstellung gar nicht mehr
so
lustig zu finden. Er schrie auf Italienisch Rigoni an, er solle doch
Vernunft
annehmen und ihm sein schönes Rennen nicht boykottieren. Es half
nichts. Dazu
gab es dann noch eine Schlägerei zwischen Italienern und
Andersgesinnten, die
leeren Flaschen sausten durch die Arena, die Polizei griff ein, es gab
Beulen
und viel Geschrei. Ich hatte mir zwar ein Sechstagerennen in New York
sehr
bewegt vorgestellt, aber hier bewegte sich aber auch alles.<>
Rettung:
„Eine Latte fehlt!“
Bis dann um 7.15 Uhr morgens auf
einmal
unsere
Armesünder-Glocke dreimal schlug. Wir trauten unseren Ohren nicht.
Was
bedeutete denn diese Neutralisation auf einmal? Niemand war
gestürzt … Ich ging
zu Direktor Proscia und fragte, was denn los sei. „Jungens“, sagte er,
„geht
alle in eure Kabinen und schlaft euch mal aus. Die Bahn ist in der
Kurve
reparaturbedürftig“ – (es fehlte auf einmal eine Latte, und ich
hörte später,
dass der „Wal“ selber die rettende Latte herausgesägt hatte) –
„und ich kann
keinen Zimmermann vor 12 Uhr bekommen. Das Rennen beginnt erste wieder
um 13
Uhr.“ Da gab es dann richtigen Krieg im Innenraum, die 1000 Zuschauer,
die noch
ausgehalten hatten, gerieten sich in die Haare. Ich verschanzte mich
mit
Clemens in die Koje, zog den Vorhang zu und wartete, bis das Gewitter
sich dank
50 Polizisten verzogen hatte.
Nachmittags hatte Rigoni und „Bevi“
sich
beruhigt, die
„schnelle Pulle“, die sie in der Nacht so gereizt hatte, tat ihre
negative
Wirkung, und die Helden waren müde.
Im Finale unterlagen wir den Belgiern
mit
einer Runde
Rückstand, die sie während eines Defektes von mir zwei
Stunden vor Schluss
herausfuhren. Wir hatten aber für unser erstes Rennen einen guten
zweiten Platz
erobert und wurden stürmisch gefeiert. Hätten wir gewonnen,
ich glaube, ganz
Luxemburg wäre damals aus dem Häuschen geraten.
Statt Börse zog der „Wal“ die
Kanone
Nach dem Rennen wollten wir gleich
unser
schwer verdientes
Geld kassieren. Roger Godeau war der erste an der Tür des
Veranstalters und
trat nach kurzem Klopfen ins Büro. Er war allerdings sehr schnell
wieder draußen.
Er erzählte uns kreidebleich, dass Proscia, sich
mit den Füssen auf dem Schreibtisch
entspannend, sobald er von „Geld abholen“ gehört habe, seelenruhig
eine Pistole
aus der Schublade gezogen, mit gewandter Wildwest-Drehung um den
Zeigefinger
den Lauf auf Godeau gerichtet und ihm zu verstehen gegeben habe, dass,
wenn er
binnen 10 Sekunden den Raum nicht
verlassen hätte, der Schuss wahrscheinlich losgehen würde. –
Ich wurde dann
hineingeschickt, um höflichst zu fragen, wann denn Zahltag
wäre: Proscia war aber
gut gelaunt und freute sich mächtig, dass er Godeau einen solchen
Schrecken
eingejagt hatte. Unser Geld bekamen wir allerdings erst zwei Tage
später…
Wir kamen auch per Schiff wieder zurück bei schwerer See
und
starteten zwei Tage nach unserer Heimkehr im Brüsseler
Sechstagerennen. Aber
das ist eine andere Geschichte, die erzähl ich euch das
nächste Mal.
Lull Gillen
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